Sonntag, 6. Dezember 2009

Text und Programm III

2. Ist jeder Text ein Programm?

b) Ein Gedicht

Dies ist meine Mütze,
dies ist mein Mantel,
hier mein Rasierzeug
im Beutel aus Leinen.

Konservenbüchse:
Mein Teller, mein Becher,
ich hab in das Weißblech
den Namen geritzt. [...]

Aus: Günter Eich, Inventur.

Vgl. http://www.philosophia-online.de/mafo/heft2007-1/Jo_Eich.htm.

Oder http://de.wikipedia.org/wiki/Inventur_(G%C3%BCnter_Eich)

Wenn man mit diesem Gedicht Ähnliches versucht, wie mit einer Einkaufliste, stößt man doch recht schnell an seine Grenzen. Mit den ersten zwei Versen wiederholt sich eine Form, im dritten Vers wird ein Teil der Form aus V1 und V2 einfach weggelassen. Der vierte erweitert den dritten. Der fünfte Vers ist dann noch kürzer, aber der Leser ahnt inzwischen auch so, was das einzelne Wort bedeuten kann.

Für menschliche Interpreter ist das alles kein besonderes Problem, weil man die Form des Gedichts im Vollzug lernt um den Inhalt zu erschließen, während man mögliche Bedeutungen mit seiner eigenen Lebenswirklichkeit abgleicht. Am Schluss bleibt man dann bei einer Interpretation hängen, die im Vergleich mit anderen Interpretationen anderer Menschen noch nicht mal die Wahrscheinlichste seien muss. - Erst wenn man dann mit anderen die Interpretation diskutiert, kann man zu einer oder mehreren Deutungen finden, die man weitgehend teilt.

Vergleichbares in der Maschinensprache hätte man, wenn man z.B. das Ende einer Schleife offenlassen könnte, weil der Interpreter dann schon irgendwie merkt, dass die Schleife fünf Codezeilen vorher zu Ende gewesen sein müsste.

Schluss: Nicht jeder Text ist ein Programm. Vielmehr sind Programme ganz spezielle maschinenlesbare Texte. Ihre Variabilität ist an die Fähigkeit der Maschine gebunden, Texte zu verstehen und ggfs. sinnvoll zu ergänzen. Diese Fähigkeit ist bislang recht gering.

- So richtig neu ist diese Erkenntnis jetzt auch nicht. Aber es ist doch überraschend, welche Wege es nimmt, wenn man mal etwas für sich plausibel machen möchte.

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